Im Gespräch mit Annemarie Gerzer-Sass
Leitung der Serviceagentur Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser,
zuvor langjährige Familienforscherin am Deutschen Jugendinstitut
Sehr geehrte Frau Gerzer-Sass, vielen Dank dass Sie sich für den Vorsorgeverein für Kammerberufe e.V. Zeit genommen haben. Sie sind die Leiterin der Serviceagentur Aktionsprogramm Mehrgenerationen-häuser und haben sich in Ihrem Buch mit intergenerativem Arbeiten auseinander gesetzt. Was verstehen Sie darunter?
Eine längere Lebenserwartung bedeutet für kommenden Generationen ein grundsätzliches Umdenken in allen Bereichen. Nicht nur, wie sich Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter mit den jeweils spezifischen Herausforderungen verschieben, sondern vor allem auch, wie sich die bisher verfassten institutionellen Strukturen dafür wie die Kinder-Jugend-Familien-und Altenhilfe sich zu verändern haben. Das heißt, es reicht nicht mehr aus, Angebote für Kinder, Jugendliche, Familien und ältere Menschen in der Kommune vorzuhalten, sondern Angebote zu ermöglichen, bei denen sich verschiedenen Generationen nicht nur begegnen, sondern miteinander in Austausch treten können und etwas gemeinsam machen. Intergeneratives Arbeiten bedeutet somit, wie die unterschiedlichen Generationen zusammengebracht werden können und voneinander und miteinander lernen können.
So z. B. wie in den Mehrgenerationenhäusern.
Ein längeres Leben hat dabei direkte Auswirkungen auf unsere Versorgungs-systeme. Inwiefern sehen Sie eine Gefahr für den Generationenvertrag?
Die Eltern sorgen für die Erziehung und Ausbildung der Kinder und im Gegenzug sichern die Kinder später die Versorgung der Alten – ein symbolischer Vertrag zwischen den Generationen, der durch die Entwicklung hin zu einer „Gesellschaft des langen Lebens“ ins Wanken kommt. Männer steigen, wie die Zahlen uns zeigen, durch die längeren Ausbildungszeiten später in den Beruf ein, Frauen ebenso, unterbrechen aber wegen einer oder mehrerer Familienphasen (Kinder, Pflege) zusätzlich ihre Erwerbsbiographie. Erschwerend kommt bei der jüngeren Generation die teilweise fragmentierte Erwerbsbiographie „Generation Praktikum“ dazu. Das bedeutet, die ursprünglich ca. 40-45jährige kontinuierliche Erwerbsbiographie, die als Grundlage für den Generationenvertrag genommen wurde, trifft weder auf Männer noch auf Frauen zu. Das bedeutet insgesamt, dass in die Versorgungssysteme nicht mehr in dem Maße so kontinuierlich eingezahlt werden kann, wie das rückblickend in den letzten 50 Jahren der Falle war.
Ihr Lösungsansatz für diese Problematik?
Als Lösung bietet sich aufgrund des demografischen Effekts, d.h. weniger Kinder- mehr ältere Menschen, die längere Integration älterer Personen in den Arbeitsmarkt an. Eine Erwerbstätigkeit zwischen 55 und 70 Jahren sollte möglich werden, ebenso sollten die Potenziale älterer Menschen für das Gemeinwesen stärker genutzt werden, so z. B. durch Anreize für ein freiwilliges Engagement. Der „aktivierende Sozialstaat“ fordert und fördert Eigenverantwortung und Eigeninitiative. Dies ist nicht alleine Ausdruck von finanziellen Zwängen, sondern dahinter steht das Leitbild, dass eine Bürgerin oder Bürger nicht nur als zu alimentierend wahrzunehmen ist, sondern auch als eigenverantwortlich gestaltend. Dieser Paradigmenwechsel ist jetzt einzuleiten, der sich dann auch auf die Versorgungssysteme durch längere Phasen der Einzahlungen in die Versorgungssysteme auswirkt. Das bedeutet, dass es einen neuen „Dreiklang“ geben muss, zwischen Eigeninitiative d.h. Eigenvorsorge, gesetzlicher und betrieblicher Vorsorge.
Sie haben die heutigen längeren Ausbildungszeiten und Unterbrechungen bei Elternzeiten angesprochen. Sind Akademikerinnen besonders von der Versorgungsproblematik betroffen?
Ein entscheidender Punkt ist die Frage nach dem gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Gerade in Deutschland zeigt sich nach wie vor eine Lohndifferenz von durchschnittlich 28% zwischen Männern und Frauen. Das bedeutet, Frauen verdienen im Schnitt in gleicher Position wie ein Mann um 28% weniger, dies trifft vor allem auf akademische Berufe zu. Hinzu kommen die Nachteile der akademisch gebildeten Frauen durch einen späteren Einstieg ins Erwerbsleben durch längere Ausbildungszeiten, der Inanspruchnahme der Elternzeit, die oft auch mit Nachteilen der weiteren Karriereplanung verbunden sind.
Es bleibt einerseits unverzichtbar, diese Nachteile auf dem Arbeitsmarkt zu beheben. Andererseit braucht es auch eine Flexibilisierung unserer Versorungssysteme, die sich an veränderte Erwerbsbiographien anpassen, was bedeuten kann, dass auch in Phasen der Nichterwerbstätigkeit ein Ansparen der Altersvorsorge möglich gemacht wird.
Durch die steigende Anzahl älterer Menschen steigt auch die Belastung - nicht nur finanziell - für Familien im Pflegefall. Welche Möglichkeiten sehen Sie, wie dieser Problematik begegnet werden kann?
Alle Statistiken weisen auf die Effekte hin, die eine zunehmend ältere Gesellschaft mit sich bringt. Im Bereich von Demenz zeigt sich bei den 70-78 jährigen eine 4% Steigerung, bei den 80-90 jährigen eine 25%ige Steigerung, bei den ab 90jährigen eine bis zu 40%ige Steigerung von möglichen Demenzerkrankungen. Diese Steigerungen rufen Schreckensszenarien hervor, da aufgrund der bisherigen Praxis im Umgang mit an Demenz Erkrankten hochgerechnet wird, was dies für die institutionelle Versorgung in den Alten- bzw. Pflegeheimen bedeutet und damit auch der Kosten für die Angehörigen, bzw. der Sozialkassen. Neben anderen Gründen für eine Pflege im Alter ist gerade die Demenz einer der größeren Herausforderungen unserer Zeit, nicht nur gesundheitspolitisch, sondern vor allem gesellschaftspolitisch. Vielmehr sind diese Effekte der älter werdenden Gesellschaft mit der Frage verbunden, wie das Alter neu zu gestalten ist und damit auch wie mit Gebrechlichkeit und Pflege umgegangen wird.
Bisher bedeutet eine Demenzdiagnose mehrheitlich ein Ausschlusskriterium aus unserer Gesellschaft, was aber so nicht sein muss und auch nicht sein darf. Es startet gerade die Debatte dazu und es gibt auch neue Ansätze der Entlastung z. B. für betreuenden Angehörigen und auch für die Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Hier weisen Einrichtungen wie z. B. die Mehrgenerationenhäuser oder auch andere gemeinnützige Vereine und Wohlfahrtseinrichtungen auf neue Mischungen von Angeboten hin. Dies kann eine stundenweise Betreuung bis hin zu Tagesbetreuungen in gemeinnützigen Einrichtungen sein in Verbindung mit Qualifizierungen und Vermittlung von Alltags- und Betreuungshilfen tragen damit auch eine besseren Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Das bedeutet mehr Mischungen und Übergänge zwischen ehrenamtlich erbrachte Pflege in Kombination mit professioneller Pflege zuzulassen und erst zu einem sehr späten Zeitpunkt der Erkrankung Institutionen wie ein Pflegeheim in Anspruch zu nehmen.
Frau Gerzer-Sass, ich bedanke mich sehr herzlich für das angenehme und äußerst informative Gespräch. Ihnen weiterhin alles Gute bei Ihrer wichtigen Arbeit.
München, 14.01.2015
Das Gespräch führte Ralf Tait,
Vorstand des Vorsorgevereins für Kammerberufe e.V